Wolfgang Lüttgens
Texte Sabine Elsa Müller
"Zu den Arbeiten von Wolfgang Lüttgens"
in Kölner-Skizzen, 29.Jhrg., Heft 1/2007


Die allgemeine Frage nach der Realität… Erfahrbares und Nicht-Erfahrbares liegen dicht beieinander. Auffällig sind die häufigen Überblendungen, Spiegelungen und Reflexe - Zeichen raumgreifender Ausdehnung, die selbst bei einem klassischen Tafelbild wie es die Gruppe der „Atelierbilder" präsentiert, eine Tendenz zur Auflösung der Fläche zeigen. War bei den ersten digital bearbeiteten Atelierbildern (die ihren Namen der Tatsache verdanken, dass ihnen ausschließlich fotografische Ansichten des eigenen Atelierraums zugrunde liegen) die räumliche Positionierung von Fußboden/Wand/Tisch/Stuhl zwar ad absurdum geführt, aber rudimentär noch erkennbar, so haben sich im Laufe ihrer weiteren Entwicklung und der damit einhergehenden Konzentrierung diese Orientierungshilfen fast vollständig verflüchtigt. Während zunehmende Transparenz und Lichtintensität optisch immer tiefer in das Bild hineinführen, sind es die einzelnen, gleichsam die Tiefenschichten durchbrechenden Details, an denen der Blick haften bleibt. Der architektonische Raum verwandelt sich in einen verschachtelten ideellen Raum, der als Behälter für eine völlig zusammenhanglos scheinbar daraus auftauchende und wieder in ihn zurücksinkende Dingwelt fungiert.

Inhaltlich knüpfen die „Atelierbilder" an die davor entstandenen, formal aber vollkommen davon verschiedenen „Bassins" an. Auch hier wurde mit Fotografie gearbeitet; die Kumulation stapelt sich jedoch nicht durch Übereinanderkopieren in die Tiefe, sondern findet durch Ausbreitung massenhaft vieler kleiner Kontaktabzüge Stoß an Stoß in der Fläche statt. In die Horizontale gekippt und in einen Holzrahmen eingelassen, stellt sie sich skulptural als spiegelnde Oberfläche dar. Auch hier entsteht eine starke Spannung zwischen dem erzählerischen Detail des Einzelbildes und dem Gesamtbild, dessen abstrakte all-over-Struktur durch ihre Kleinteiligkeit und die starken Schwarzweißkontraste einen flirrenden Effekt hervorruft. Die Bilder beginnen vor den Augen zu verschwimmen.

Wie aber verhält es sich mit der Erfahrung von Realität, wenn man sich ihr von der anderen Seite nähert, von der Seite des Nicht-Dargestellten, Nicht-Ausformulierten, also von einer Leerstelle aus? Bleiben wir bei der Fotografie. Bei einer ganzen Reihe von Arbeiten hat Wolfgang Lüttgens Fotografien eingeschwärzt bis auf zwei, drei oder vier punktgroße Auslassungen. Ähnlich dem Vorgang des Sich-Erinnerns bleiben von der ursprünglichen Information nur Restbestände in Form minimaler Anhaltspunkte zurück, an denen sich die Imagination entzündet. Der innere Erfahrungshorizont bildet das Rüstzeug beim Versuch, wieder ein vollkommenes Ganzes zu rekonstruieren. In der Wandinstallation „Der ferne Raum I" wurden dagegen kreisrunde Punkte aus Fotografien ausgestanzt und bündig in die Wand eingelassen, so dass es scheint, als ob sich unter dem Putz der Wand ein intaktes, nur an wenigen Stellen freigelegtes Bild befindet. Archäologischen Funden von Fresken ähnlich, die unerwartet unter dem abblätternden Wandanstrich zum Vorschein kommen, eröffnen sie neue soziale, zeitliche und ästhetische Dimensionen.

In einer Schaufenstervitrine für die „Cent lieux d´art" in Frankreich hat Wolfgang Lüttens mit wenigen Elementen einen in sich geschlossenen, komplexen Raum geschaffen, „der zurückhaltend einfach und zugleich kraftvoll über das vielfältige Spiel mit und von Bedeutungen das alltägliche Sein reflektiert"(1). Zentrales Element war ein Exemplar aus der Gruppe der sehr zarten und poetischen „Blätter" - bis zur beginnenden Auflösung perforierte Fotografien im Postkartenformat, die durch zusätzliche Verbiegungen ein Höchstmaß an plastischem Volumen gewinnen. Das Ineinanderfallen von Zufälligem und Zwingendem in der auf diese Weise bearbeiteten Abbildung einer Rose transportiert deren ganze Sinnbildlichkeit zwischen Verletzbarkeit, Schönheit und Vergänglichkeit.

Hinter dem scheinbar spielend beherrschten Wechsel zwischen den Medien und Ausdrucksformen lässt sich die ursprüngliche Intention der Fragmentierung als Mittel, zum Wesentlichen vorzudringen, verfolgen wie eine feine Spur. Bei der Ausstellung „Die Gesänge IV" im Kunstverein Bochum kommen schmale, schwarze Karbonbänder zum Einsatz, wie sie beim Schreiben mit der Schreibmaschine vor noch nicht allzu lang zurückliegender Zeit massenhaft Verwendung fanden. Die Bänder sind gebraucht; sie bewahren als Negativform die lückenlos aneinandergereihten Buchstaben eines verlorenen, nicht mehr verfügbaren Textes. Federleicht, leise vom Luftzug bewegt, fluten die Schriftbänder von der Decke herab und verbinden sich sich zu einer von Schatten und Lichtreflexen belebten Zeichnung im Raum.

Wolfgang Lüttgens ist ein Grenzgänger zwischen realen und imaginären Räumen. Deshalb dieser starke räumliche Bezug, der sich auch gerade bei den Tafelbildern Geltung verschafft. Dabei genügen manchmal kleinste materielle Partikel oder Fragmente, um ein dichtes Netz aus Bezügen herzustellen. Die immer weiter vorstoßende Pointierung der Frage nach der Realität bis hin zur fast völligen Ausblendung der bildhaften Information führt in Grenzbereiche nahe schierer Bodenlosigkeit. Immer neue Türen öffnen sich in immer neue Räume.

1) Christian Krausch in Katalogtext "C'est une rose"


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