Wolfgang Lüttgens
Texte Sabine Elsa Müller
"Der ferne Raum, Wolfgang Lüttgens"
in: KUNSTFORUM, Bd. 196, 2009


Das Forum für Kunst und Kultur im alten Bahnhof in Herzogenrath verfügt über zwei separate Ausstellungsräume am Ende eines langgestreckten Flurs, der von Wolfgang Lüttgens geschickt als Entree zur Ausstellung genutzt wird: Die Wandinstallation „C´est une rose" besteht aus punktförmigen Fragmenten einer Fotografie einer Rose, die wie verstreute Partikel mit einem Durchmesser von 6 - 16 mm sehr großzügig auf der Wand verteilt wurden. Trotz der Winzigkeit und vom Betrachter aus teilweise weiten Entfernung der Pünktchen imaginiert sich die Einbildungskraft daraus das vollständige Bild einer Rose, obwohl der allergrößte Teil der ursprünglichen Abbildung gar nicht zu sehen ist. Die peripheren Bild-Punkte erinnern nicht von ungefähr an das „punctum", mit dem Roland Barthes jenes Zufällige einer Fotografie beschreibt, das den Betrachter tatsächlich „besticht", das ihn dazu verführt, sich von der Fotografie berühren zu lassen. In Verlängerung der Analogie zu Barthes´ Essay „Die helle Kammer" entspräche die große weiße Leere der Wand dem inneren Blick, der Innenschau, die das Bild erst zum Sprechen bringt.
Sehr viel Weiß dominiert auch die Haupträume, die den Tafelbildern, sparsam gehängt und eher kleinformatig, vorbehalten sind. Der titelgebende „ferne Raum" taucht in jedem einzelnen von ihnen auf, mehr oder weniger entrückt, in immer unterschiedlicher Gestalt. Dabei setzen die rahmenlosen Bildkanten nicht wirklich eine Grenze. All diese fremdartigen Räume haben ihren Ursprung in Aufnahmen von ein und demselben realen, vertrauten Raum, dem Atelier des Künstlers. In diesen „Atelierbildern", mit denen sich Lüttgens seit ca. 2002 beschäftigt, definiert sich eine spezifische räumliche Situation trotz der Beschränkung auf einen vergleichsweise engen Fundus an Bildmaterial in völlig unterschiedlicher Weise. Während sich bei einer Serie aus 2005 die Informationen wie destillierte Konzentrate an den Rand drängen, um mit dem „leeren" Innenraum der Imagination das Feld zu überlassen, führen im Jahr darauf tief ineinanderverschachtelte Überlagerungen zu dunklen Grauabstufungen, die sich fast bis zum alles in sich absorbierenden Schwarz verdichten. Fragmentierung, Veränderung der Größenverhältnisse, Negativumkehrung, farbige Einfärbungen etc. gehören zu den Verfremdungsmitteln, die sich der digitalen Technik verdanken.
Die Ansichten des Ateliers fächern sich auf wie ein Kaleidoskop. Sie machen sich vom konkreten Moment der fotografischen Aufnahme und von der einmal gewählten Perspektive unabhängig. Dabei setzen die tendenziell unendlichen Möglichkeiten der formalen Aufbereitung selbst die Grenzen des Mediums außer Kraft. Während ein Ausdruck auf Fotopapier, hinter Plexiglas oder auf Holz aufgezogen, noch deutlich der Fotografie zuzuordnen ist, könnte es sich bei einem als Inkjet Druck ausgewiesenen Foto eher um Druckgrafik handeln. Von der sinnlichen Erscheinung her wirkt hier die Oberfläche in ihrer samtigen Mattheit fast wie Malerei. Eine Serie aus 2008, die sich auf eine tonig abgestimmte Farbgebung konzentriert und zudem eine bei Lüttgens neue Tendenz zum Querformat erkennen lässt, erinnert an die durch Licht- und Schattenwirkungen bestimmten Innenräume Edward Hoppers. Noch jünger ist die Kombination von Schwarzweiß- und Farbfotografie innerhalb eines Bildformats, wodurch wiederum der grafische Eindruck eine stärkere Betonung erfährt. In diesen neueren Arbeiten werden die verschiedenen Techniken virtuos miteinander kombiniert, dabei aber sehr sparsam und diszipliniert eingesetzt. Aus den einzelnen Komponenten entsteht etwas völlig Neues, Eigenständiges, dessen Bezüge zu einem realen Raum gekappt zu sein scheinen. Der reale Raum wird in dem idealen Bildraum aufgehoben.
Im jüngsten, auf 2009 datierten Werkkomplex, verlässt Lüttgens die Form des Tafelbilds und greift zu einer Art seriellem Raster, bei dem er wiederum die Kreisform einsetzt. Auf jedem einzelnen Papierbogen in der Größe von 64 x 58 cm sind sechs kreisrunde Bildausschnitte von je 10 cm Durchmesser angeordnet. Diesmal erinnern die gleich großen und mit gleichem Abstand zueinander gesetzten Kreise an willkürliche, nach dem Zufallsprinzip entstandene Aufnahmen von geheimer Wichtigkeit. In der Stuktur differenziert, in der Farbigkeit ähnlich, lassen sie auf Grund ihrer kühlen Ausstrahlung an hochmoderne technische Geräte oder Anlagen denken. Aber auch hier handelt es sich wieder um Ausschnitte aus dem vertrauten Fundus an Aufnahmen des eigenen Ateliers. Der gleichzeitige Eindruck von Distanzierung und Überhöhung des Privaten verdankt sich der Art und Weise des Umgangs mit dem Aufnahmematerial - raffiniert eingesetzten Verfremdungseffekten wie starke Vergrößerung oder Verwendung von Farbfilm-Negativen, die in diesem mittleren Graubereich nicht so schnell als solche entlarvt werden. Außerdem wirkt die Kreisform der tiefenräumlichen Dimension entgegen zugunsten einer betonten Flächigkeit. In dieser Form der Zurschaustellung wird die Zerstückelung der vorgefundenen Wirklichkeit forciert, anstatt neue Bezüge herzustellen, werden die Unterschiede herausgearbeitet. Die Fragmente werden voneinander isoliert und wie eigenständige Elemente behandelt.
Wolfgang Lüttgens´ Fotoarbeiten führen ein Dasein zwischen Zeigen und Verbergen. Sie erschrecken oder brüskieren nicht, sondern geben sich so sensibel wie subversiv. Das Private wird gerade dadurch dem entblößenden Blick entzogen, dass es massenhaft reproduziert und wieder neu zusammengesetzt in eine andere Wirklichkeitsebene transformiert wird. Durch eine subtile Ästhetik in Verbindung mit den verschlüsselten Korrelationen entwickeln die Arbeiten ihre große Suggestionskraft. Bei dem Versuch des Betrachters, die divergierenden Einzelteile zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenzufügen, wird ein kognitiver Prozess in Gang gesetzt. Unversehens wird aus der Betrachtung ein Nachdenken über die Vorbedingungen des Bildes: Das Sehen und das dem Bild zugrunde liegende Verlangen nach einer Evidenz der Wirklichkeit.


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